Liebe Freunde,
wann ist der richtige Zeitpunkt, um etwas Erfreuliches und
Positives zu teilen? Gibt es einen Tag oder auch nur eine Stunde, wo
nicht etwas Schreckliches passiert? Ist es nicht schrecklich, dass in
einigen Ländern seit Jahrzehnten Krieg herrscht, gefolgt von Mord,
Vergewaltigung, Folter, Vertreibung...? Ist es nicht schrecklich, das in
so vielen Ländern Hunger herrscht und alle drei Sekunden ein Kind an
Hunger stirbt? Ist es nicht schrecklich, dass wir in einem Land leben,
dass so grausame Kriege hinter sich hat und dennoch weiterhin zu den
größten Produzenten und Exporteuren von Waffen zählt?
Opfer sind immer Opfer von Tätern. Täter sind häufig selbst
Opfer von Tätern, von Tätern, von Tätern… Die große Preisfrage lautet:
Wer ist schuld? Unsere erste Reaktion ist doch häufig die Frage nach den
Schuldigen. Denn es ist auffällig, dass bei Taten, wie etwa gestern in
Paris, den Tätern eine größere Aufmerksam geschenkt wird, als den
Opfern? Wer sind die Todesopfer und die Verletzten? Wie geht es gerade
ihren Familienangehörigen? Wie groß ist gerade der Schmerz, den sie
ertragen müssen? Wie können wir ihren Schmerz lindern? Was wird
eventuell aus ihren Partnern und Kindern, sofern sie welche haben?
Ich selbst stelle mir auch immer wieder die Frage: Wem nützen solche Verbrechen?
Zurück zu den Opfern: Verdient ein Mensch wirklich den Tod,
selbst wenn er sich über Gott, den Propheten, den Koran lustig macht,
etwa durch Satire? Mir ist weder ein eindeutiger noch ein mehrdeutiger
Koranvers dazu bekannt. Was haben die ersten Muslime in den ersten 12
Jahren in Mekka nicht alles an Spott, Folter, Boykott, Mord und
Vertreibung ertragen müssen? Dass sich irgendwelche Leute über den Islam
lustig machen, ist doch nichts Neues. Der Prophet wurde bereits von
seinen Zeitgenossen als Dichter verspottet oder als Besessener
beschimpft. Ich erinnere mich an Überlieferungen, wo der Prophet direkt
beleidigt wurde: Abu Djahl sagte zum Propheten: „O Muhammad, ich kenne
in deiner Sippschaft niemanden, der hässlicher ist als du“. Doch was war
die Reaktion des Propheten? Er sagt: „Du hast Recht…“ Als ein Mann den
Propheten beleidigte und der Prophet schwieg, schimpft sogar seine Frau
und sagte: „Warum hast du dir das gefallen lassen…?“ Was aber sagte der
Prophet: „O Aischa! Hast du je ein schlimmes Wort aus meinem Mund
gehört?“
Gerade an Tagen wie diesen, ist es notwendig, sich den
Grundsätzen des Islam bewusst zu werden: Mord und Selbstmord gehören zu
den größten Sünden (dazu gib es wiederum eindeutige Verse im Koran). Das
Töten ist nur zur Selbstverteidigung oder in Notwehr erlaubt. Selbst im
Kontext des Krieges gilt: Wer sich nicht an der Kampfhandlung
beteiligt, ist zu verschonen (Beispiel: Zivilisten). Zu Selbstmord gilt:
Niemand darf sich den Ort, den Zeitpunkt oder die Art seines Todes
selbst aussuchen. Gott schenkt und nimmt das Leben.
Jeder Mord ist ein Brudermord. Das gilt nicht nur für Kain und
Abel, wo der erste Brudermord stattfand oder für die Nachkommen Abrahams
(Araber und Juden).
Die Täter von Paris haben – wie alle anderen Täter auch, die in
der Vergangenheit das Bild unseres schönen Glaubens verfälscht haben –
auch uns Muslime zu Opfern gemacht. Wieder einmal sitzen wir auf der
Anklagebank und wieder verlangt man von uns, uns zu distanzieren. Ja,
wir distanzieren uns von den Tätern. Aber nicht nur von den Tätern,
sondern auch den Tätern, dessen Opfer diese Täter sind: Von verfehlter
Politik, von ausbeuterischer Wirtschaft, Hetzmedien, von rassistischen
Arbeitgebern, Wohnungseigentümern, Passanten, Eltern, Lehrern und
Hasspredigern, aber auch von jenen, die wegschauen und vor allem von
jenen, die von alledem irgendwie wirtschaftlich, politisch oder medial
ihren Profit schlagen.
Je mehr wir erfahren, was so alles auf unserer Welt passiert,
umso größer ist doch unser Schmerz. Es sei denn, wir gehören zu den
Ignoranten. Dass allerdings ist definitiv nicht die Eigenschaft eines
Gläubigen.
Antwort von Angela Amecke,
Schauspielerin und lNTR°A-Mitglied aus Montpellier am 09.01.2015:
Liebe Freunde des Iserlohner Diwan und des interreligiösen Dialogs,
ich habe in diesen
Tagen an euch gedacht - hier aus Frankreich, wo ich jetzt wohne. Ich habe ich an unsere
gemeinsamen Gebete und Gespräche in der Welt der Religionen erinnert. Wie viel
habe ich dadurch gelernt. Wenn Menschen beten, egal wo in der Welt, dann ist
bereits Frieden.
Das habe ich erlebt, und es hat mich geprägt: in Deutschland,
Rumänien , Indien, Maroko, Tunesien, Bali, Mexiko und wo immer ich war.
Das was jetzt in Frankreich geschah, ist nicht das Werk gläubiger Menschen. Es ist nur Terror, Hass, Verachtung.
Ich habe immer als Christin für Muslime gebetet und hoffe, das sie es auch für mich tun.
Das ist Dialog für mich.
Mit euch verbunden und dankbar, dass es euch gibt.
Brief des Silsilah Dialogue Movement vom 10.01.2015 an die muslimischen Freundinnen und Freunde - übermittelt von INTR°A-Mitglied,
Prof. Dr. Leonard Swidler, Philadelphia (USA)